Stefan Zöllner

Text

 

Traumbefehle

Wenn der Traum, im Sinne traumwandlerischen Flanierens durch surreale Wortareale, zum Autor in der Wachwirklichkeit wird, zum Ursprung und dann Urheber neuer Dinge, dann fühlen wir uns an schamanistische Praktiken erinnert oder traumselige Momente der Kindheit, in denen wir so selbstvergessen selbstverständlich in Phantasien spielten als existiere kein Unterschied zwischen Vorstellung und Realität. Genau dies aber ist der Boden der neuen Poetik Zöllners, auf der er entwickelt, verwandelt und letztlich der Demiurg wird, der Platons Gedanken vom Urbild und dessen Abbild als Ding wahr werden lässt.

 

Entsprangen schon die früheren, vordergründig einfachen Objekte dieser Art materialisierter Poetik, so sind es die neueren in einer viel impliziteren Weise. Lässig gewählte Anagramme wie „Hühnerleder“, „Zugeschnallte Fromms“ oder „Ereiferter Dorn im Bitumentest“ werden direkt umgesetzt und übersetzen so die sprachlichen Traumgeschöpfe in reale Objekte ohne an Geheimnis zu verlieren.

 

Im Gegenteil: die Transkription erweitert unsere Perspektiven um vier neue Dimensionen. Zöllner erschafft hier einen Hermaphroditen, einen Wechselbalg, dessen explizite Deutung zu oszillieren beginnt, sobald wir zwischen Code/Sprache und Material/Objekt zu vermitteln suchen.

 

Betrachten wir die Objekte unter Berücksichtigung ihres sprachlichen Ursprungs, werden wir animiert, ständig das Standbein zu wechseln. Wir vollführen also ein Beobachtertänzchen im  Rhythmus der changierenden Kippfigur. Dabei verführen uns die meist der Zweckwelt entlehnten Materialien dazu, weitere Deutungsversuche zu wagen, wie in einem potenten Gedicht jenseits der Zeilen zu lesen. Bis in einen magischen Zustand, ja, Rausch hinein, in dem die Ratio, der erweiterten Wahrnehmung zuliebe, ihren Hegemonieanspruch aufgegeben hat.

 

Was uns auf den Planken von Rimbauds trunkenem Schiff auf so fantastische Weise in eine Realität jenseits der Sprache schaukeln lässt, scheint auch bei Zöllners Transformationen auf. Der Mutationstaumel selbst ist es auch, den der Künstler sucht, von dem er angetrieben ist und der ihn für uns zaubern lässt.

 

Georg Heuschen, 2013
(Katalogtext „Sprachlabor“)

 

 

Assonanz und Antithese

– über Manierismus –

 

Ein Grund, dass ich heute Abend die Ehre und das Vergnügen habe, einige einleitende Worte zu Beginn dieser Ausstellung mit neuen Arbeiten Stefan Zöllners an Sie zu richten, liegt gewiss in unserer nunmehr knapp 20jährigen Freundschaft begründet, eine Zeit in der ich nicht nur Gelegenheit hatte, zahlreiche Facetten seines vielgestaltigen und über die Zeit konsequent fortgeführten Werks kennenzulernen, sondern auch etliche zum Teil ausgezeichnete Reflexionen über sein Werk studieren konnte.

 

Auffällig war für mich dabei, dass oftmals der visionäre, zukunftsgerichtete Aspekt seiner Arbeiten betont wird. Und es verhält sich ja tatsächlich so, dass Stefan Zöllner ein ‚moderner’, zeitgenössischer, gleichermaßen unsere Gegenwart reflektierender wie heraufdämmernde Tendenzen erfassender Künstler ist, was schon ein Blick auf die Vielgestaltigkeit seines Werkes zeigt, das gleichermaßen Malerei und Zeichnung klassischen Zuschnitts wie auch Skulptur, Computerkunst, Installation (das Mixed-Media- Spektrum) beinhaltet sowie auch nicht zuletzt ein umfangreicher und immer noch wachsender Katalog elektronischer Musik, mit bemerkenswerten Seitenprojekten, die in den Bereich der improvisierten Musik und des Free Jazz gehen – es sei in diesem Zusammenhang bereits auf die Finissage verwiesen, während der Sie Gelegenheit haben werden, auch diese Facette seines Schaffens kennen zu lernen.

 

Werktitel wie ‚Transhuman’, ‚Omega-Simulator’ ‚Weltformel’ oder ‚Simulacrum’ sprechen bereits lebhaft von Zöllners reflektiertem Umgang mit Problemstellungen der Geistes- und Naturwissenschaften. Doch Stefan Zöllner wird (hoffentlich!) gewusst haben, was er tat, als er mich bat, an dieser Stelle zu Ihnen zu sprechen – als eher antiquarisch-historisierende Seele möchte ich an dieser Stelle den Zeitpfeil in rückwärtiger Richtung beschreiten; Stefan Zöllner ist nämlich auch Erbe und Sachwalter einer Traditionslinie, die wir gewohnt sind, unter dem Begriff des Manierismus zu subsummieren. Noch vor wenigen Jahrzehnten hätte dies zunächst eine umfängliche Ehrenrettung des Begriffs wie des in diesen Kontext gestellten Künstlers erfordert: Man hätte gewissermaßen zunächst den Stein vom Grab rollen müssen, in das diese Kunstströmung seit den 20er Jahren des 17. Jahrhunderts für lange Zeit gelegt worden war.

 

Die Geschichte wird von Siegern geschrieben, und im Fall des Manierismus heißt dies, dass die Generation von Kunstkritikern nach Vasari ihr Urteil aus dem Geist des bereits angebrochenen Barock abfassten und so ein negativ gefärbtes Bild schufen, welches bis in die Zeit nach dem zweiten Weltkrieg hinein wirkte.

 

Um den Manierismus wieder auferstehen zu lassen und in sein verdientes Recht zu setzen, musste erst ein Zeitalter anbrechen, in dem die klassische Kunstlehre restlos aufgehoben wurde und sich der ästhetische Wertekanon nicht mehr ausschließlich an Kriterien wie Ordnung, Regelmaß, Harmonie, Ökonomie der Mittel und natürlich der Realitätswiedergabe orientierte. Dies war spätestens nach dem 2. Weltkrieg der Fall, die Arbeiten von Gelehrten wie Gustav René Hocke, Franz Würtenberger oder Arnold Hauser als maßgebliche Beiträger der deutschen Kunstgeschichte seien hier stellvertretend genannt.

 

Es hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass es sich beim Manierismus nicht etwa um eine Treibhausblüte handelt, eine bizarre Überhöhung der Renaissance, ja nicht einmal um eine singuläre und terminierte Epoche der Kunstgeschichte, vielmehr um eine zutiefst moderne, niemals in Gänze verschüttete Geisteshaltung, die sich unverstellter als andere künstlerische Bewegungen auf der Höhe ihrer Zeit befindet: Ein Experimentierlabor, in dem auf der Höhe der künstlerischen und technologischen Mittel der Zeit die Konstanten unserer Wahrnehmung erprobt, überhöht, zum Teil sogar mit großem Wurf hinter sich gelassen werden.

 

Um einen Anfang zu setzen, gehen wir in der Zeit zurück bis in die Zeit vor unserer Zeit. Unserer Zeitrechnung, um genau zu sein, eingedenk des Wortes von Lewis Mumford: „The clock, not the steamengine is the key-machine of the modern industrial age“.

 

Das Mittelalter kannte bis ins 14. Jahrhundert hinein unser heutiges System der Zeitmessung nicht. Das bis dahin gültige Zeitmaß war das Temporalstundensystem, das den Tag in helle und dunkle Phasen aufteilte, beide in 12 Stunden aufgeteilt, welche jedoch ihre Dauer abhängig von der Jahreszeit und der Sonnenscheindauer bemaß. Die Sonnen- und Wasseruhren, die für diese Aufgaben herangezogen wurden, erledigten diese Aufgabe durchaus brauchbar, jedoch zuweilen in einer Ungenauigkeit, die modernen Präzisionsfanatikern die Haare zu Berge stehen lassen würde – Minuten waren meist bestenfalls hypothetische Einheiten, der Begriff der Sekunde war unbekannt.

 

Zumeist konzentriert sich der Gebrauch der Uhrzeit auf die umschlossene Welt des Klosters, wo sie das religiöse Leben strukturiert. Auch die auf uns gekommene Kunst bleibt in dieser Sphäre, ist funktionsgebunden, dient der Repräsentanz der weltlichen wie der göttlichen Herrschaft, ihre Schöpfer, wo sie nicht in Gänze anonym bleiben, sind uns heute zwar als ‚Meister’ (von Flemalle etc.) bekannt, man muss diesen Begriff jedoch durchaus im handwerklichsten Sinne des Wortes begreifen, mit aller letztlich profanen Ehrfurcht, die darin beschlossen liegt. Bücher und Bilder sind Unikate, die, einmal geschaffen, hinter den Mauern von Klerus und Adel sowie der sich gründenden Patrizierhäuser verbleiben. Es ist ein Zeitalter der Protowissenschaftlichkeit – an eine auf Messung, Empirie gegründete Naturwissenschaft ist noch kaum zu denken, das komplexeste Wissenschaftsmodell der Zeit ist die protochemische Alchemie, in deren Zentrum transformatorische Prozesse stehen, die eine Wandlung vom Unreinen zum Edelsten erstreben – dies ist gleichermaßen praktisch wie philosophisch zu sehen, trägt dieses Denksystem doch unter anderem stark psychohygienische Züge.

 

Auflösung, Kalzination, Destillation – der Ausgangsstoff, die materia prima, wird Transmutationen jeglicher Art unterzogen, ein gigantischer Chemiebaukasten der Zeit, mit Elementen des Psychodramas und der Astrologie durchmengt. Der Strom der Zeit, er fließt langsam in diesen Tagen. Dann eine erste Beschleunigung: Um 1320 werden mechanische Räderuhren entwickelt. Die Zeit kommt in die Städte, zunächst in den großen Kathedralen Englands oder etwa dem Straßburger Münster. Diese Uhren sind zumeist auch Planetenuhren, verziert mit allegorischen Darstellungen des Tierkreises, selbst kleine Mysterienspiele in Form mechanischer Figurinen werden eingebaut und verweisen auf die noch enge Verzahnung von Technik und mystisch- magischem Denken. Und zugleich hält eine zweite Erfindung Einzug, die die Wahrnehmung des Abendländers bis auf den heutigen Tag von Grund auf prägen wird: Die Zentralperspektive.

 

Die Beherrschung des Raums wird zu einem der großen künstlerischen Vorwürfe der Zeit, die Achsen werden zurechtgezurrt, die Wahrnehmung fokussiert, die dargestellten Figuren sind nun nicht mehr allein Gott, sondern auch dem Koordinatensystem des Malers untertan. Eine Methode, die, obwohl sie uns heute fast wie die alleinige natürliche Sichtweise erscheint, keinesfalls in allen Kulturen und Zeiten selbstverständlich war, wie man aus einem Kommentar des chinesischen Malers und Kunsttheoretiker Tsou I-Kuei herauslesen kann, der im 17. Jahrhundert diese ihm neue perspektivische Sichtweise so kommentiert: „Die Europäer verstehen sich auf die Geometrie. Darum weichen ihre Gemälde, was Licht und Schatten, Fern und Nah betrifft, nicht um ein Quentchen [von der Wirklichkeit] ab. Die Figuren, Häuser und Bäume, die sie malen, haben sämtlich einen Schlagschatten. Die Farben und Pinsel, die sie benutzen, sind von denen Chinas völlig verschieden. Die Darstellung geht vom Breiten ins Enge; man vermißt sie mit Hilfe eines Dreiecks. Malt man [auf diese Weise] Paläste an eine Wand, so hat es die Wirkung, daß die Leute fast den Wunsch haben, hineinzugehen. Lernende, die sich den einen oder anderen [Punkt davon] zunutze machen können, schaffen sich immerhin eine Methode, mit der sie Aufmerksamkeit erregen; allein, mit [wahrer] Pinsel–Methode (pi– fa) hat das ganz und gar nichts zu tun: [Solche Bilder] mögen zwar gekonnt sein, bleiben aber im Handwerklichen stecken. In der Malerei von Rang ist darum kein Platz für sie.“

 

Wir gelangen in die Zeit, von der hier eigentlich die Rede sein sollte: Wir sind im 16. Jahrhundert angekommen. Ohnehin beginnt sich die Entwicklung zu beschleunigen – Buchdruck und Schusswaffen seien hier stellvertretend genannt, das Zeitalter der Skriptorien und Ritterspiele kommt an ein Ende, und es ist ein kleines mechanisches Utensil, das die Technifizierung der Zeit vorläufig abschließt: Die Triebfeder wird erfunden. Mit dieser Vorrichtung wird es möglich, Uhren so klein und präzise zu bauen, dass sie, zunächst als Tisch- und Standuhren, aber kurz darauf auch als portable Taschenuhren jedem Bürger in seinem Haus den Zugriff auf die Zeit ermöglicht. Beziehungsweise der Zeit den Zugriff auf den Bürger ermöglicht. Denn mit der Messbarkeit wachsen Kontrolle und Reglementierung, wird das Interesse in der Physik von Aspekten der Qualität zu solchen der Quantität gelenkt, der Mensch und seine Arbeit werden demselben Quantum, nämlich der Arbeitszeit unterworfen, Heer und Verwaltung beginnen mit der Gliederung der Individuen in bürokratische messbare Einheiten, es beginnt das Zeitalter der Ökonomie und ihrer Kontrollmethoden. Zugleich jedoch – wir befinden uns in den Jahren um 1520 – florieren die Künste und die Philosophie, Antike und Humanismus amalgamisieren sich in Verbindung mit dem neuen Geist der Städte zur Renaissance, als deren überragender Repräsentant Michelangelo gilt. Ziel der Kunst soll es sein, die Natur abzubilden und zugleich zu überhöhen, die Suche nach dem Idealmaß der Proportionen, ja nach dem Wesen der Schönheit an sich wird das Äquivalent zur alchemistischen Beschäftigung mit der synthetischen Erzeugung von Gold oder der (primär symbolisch-psychodramatisch zu begreifenden) Suche nach dem Stein der Weisen.

 

Und dann eine große welthistorische Erschütterung: Am 6. Mai 1527 überfällt ein aus der Kontrolle geratener Heereshaufen von 24.000 Mann aus deutschen, italienischen und französischen Söldnern in einem ersten ‚modernen’ Kriegszug (betrachtet man die zum Einsatz kommenden Waffen) die Stadt Rom, brandschatzt und plündert in einem ungeheuerlichen Exzess, setzt den Papst auf der Engelsburg fest und bleibt bis fast zum Jahresende in der Stadt. Es kommt auch zu bestialischen Morden an der Geistlichkeit, wobei sich deutsche und französische Protestanten in den Söldnerreihen besonders unrühmlich hervortun. Gregorovius schreibt: „ Die Deutschen behielten als Andenken manche Reliquien, und die lächerlichste Beute war wohl der dicke und zwölf Fuß lange Strick, mit dem sich Judas erhenkt hatte.“ Als der Heereshaufen, nominell unter der Herrschaft des spanischen Königs, der jedoch jegliche Kontrolle über ihn verloren hat, schließlich abzieht, ist Rom ähnlich geschändet wie nach den länger zurückliegenden ‚Besuchen’ der Goten und Wandalen. Man schätzt den Wert des Raubgutes auf über eine Milliarde Euro heutigen Werts, die Kirchen und Paläste sind buchstäblich leer geplündert, zusätzlich ausbrechende Seuchen vermindern die Anzahl der Einwohner Roms auf ungefähr die Hälfte des alten Werts. Die Position der Kirche ist auf Jahrzehnte geschwächt, es ist eine Stimmung des apokalyptischen Tabula Rasa.

 

Und jetzt tritt der Manierismus ans Licht, eine Malerei a la maniera dell’Michelangelo, des Übervaters, an der ein Künstler seines Jahrhunderts so wenig vorbeikonnte wie heutzutage an Marcel Duchamp, Picasso oder Warhol. Innerhalb der kommenden Jahre werden die römischen Kirchen und Häuser wieder gefüllt sein, in neuer Pracht erstrahlen – aber in den Stil der Renaissance hat sich ein neuer Ton gemischt, eine Kühnheit und Überhöhung, die eine erste Klimax und zugleich ein epocheprägendes Vorbild in Michelangelos Darstellung des Jüngsten Gerichts in der Sixtinischen Kapelle findet. Ein explosionsartiger Wirbel hat die abgebildeten Gestalten erfasst, die bis dahin lange Zeit alles dominierende Zentralperspektive, ja, der gesamte Raum löst sich auf, tritt in der Darstellung zurück zugunsten des ‚disegno’, der Linie und ihrer künstlerischen Transformation und Überhöhung, die auch nicht vor der bewussten Zerschlagung des bis dahin gewonnenen Maßes an Wirklichkeitstreue zurückschreckt.

 

Exemplarisch lässt sich das daran aufzeigen, wie sich im Verlauf des 16. Jahrhunderts die Proportionsmaße in der Wiedergabe menschlicher Körper verändern: Hatten noch Dürer und seine Zeitgenossen bereits das bekannte Verhältnis von Kopf- zur Gesamtlänge des menschlichen Körpers mit 1:7,5 definiert, so steigert, ja übersteigert sich diese Proportionalität im Manierismus immer weiter, im Extremen bei El Greco, dessen Personal zuweilen schlangenartig auf bis auf ein Verhältnis von 1:10 ausgedehnt wird. Formale Fragestellungen und ihre ästhetische Umsetzung entwickeln eine Eigendynamik, die auch bei der Wahl religiöser Sujets zu Lösungen findet, die bis geradezu ketzerisch wirken müssen: Lelio Orsi etwa interessiert sich für das Motiv ‚Christus und das Kreuz’. Weniger jedoch für die Darstellung des Gekreuzigten, er macht daraus ein geometrisches Problem: Nicht eines, sondern Aberdutzende von Kreuzen stehen und liegen, gestapelt und verstreut in der steilen Landschaft wie Barrikaden nach einer Straßenschlacht, so dass der dazwischen wandelnde Christus fast sekundär wird. Hier deutet sich eine freigeistige Malerei an, die auf der Höhe der technischen Möglichkeiten ihrer Zeit neue Sehweisen erprobt. Dazu kommt eine neue Freiheit in der Farbgestaltung: Nicht mehr Naturtreue, aber auch nicht zwingend liturgisch-allegorische Gründe entscheiden über die Wahl des Pigments, sie ist vielmehr in der subjektiven Entscheidung des Künstlers begründet. So malt Pontormo die Kreuzigung Christi in aller Dramatik des Vorgangs, der Leichnam des Gekreuzigten jedoch ist von geradezu froschgrüner Farbe, was einem heutigen Betrachter Martin Kippenbergers spöttische Arbeit ‚Zuerst die Füße’ ins Gedächtnis bringt. Die innere Logik des Schöpfungsprozesses, nicht die Konvention bestimmt das Resultat.

 

Die geistige Klammer, in der sich diese neue, spannungsvolle Malerei, wie auch die Literatur bewegt, heißt ‚Concordia discors’, die Eintracht der Gegensätze, und diese wird bis zum Zerreißen der ästhetischen und formalen Bande ausgereizt. Arnold Hausers Definition des Manierismus hat seine Gültigkeit nicht nur für die Epoche des 16. Jahrhunderts bewahrt: „Ein manieristisches Kunstwerk ist ein Kunststück, ein Bravourstück, das Sichproduzieren eines Zauberers. Es ist ein Feuerwerk, das Funken und Farben sprüht. Entscheidend für den verfolgten Effekt ist die Opposition gegen alles bloß Instinktive, der Protest gegen alles rein Vernünftige und naiv Natürliche, das Betonen des Hintergründigen, Problematischen, Doppelsinnigen, die Übertreibung des Partikularen, das durch diese Übertreibung auf sein Gegenteil – auf das in der Darstellung Fehlende – hinweist…“ Und Emil Maurer definiert: „Wo immer man ‚maniera’-Werken begegnet: es knistert in ihrem Innern von Widersprüchen und Gegensätzen, von Paradoxien und Antagonismen, von Spannungen und Brüchen – unauflöslich, unversöhnlich.“ Wobei ich die ‚Unversöhnlichkeit’ in Frage stellen möchte, da mir diese Definition zu sehr auf eine dialektische Scheidung der Welt nach modernem Verständnis zielt: Die Concordia discors, die Versöhnung der Gegensätze, die in sich gleichermaßen Züge der platonischen Ideenlehre wie der quasimagischen Alchemie trägt, birgt letztlich in sich die Vorstellung, das alle Erscheinungsformen dieser Welt gleichermaßen Abkömmlinge einer Uridee, einer Kernessenz sind.

 

Das Medusen- und das Gorgonenhaupt sind nicht von ungefähr ein stets aufs neue durchexerziertes Motiv: Das Schöne im Schrecklichen, das Schreckliche im Schönen findet seine exemplarische Darstellung im Motiv der Chimäre, dem Mischwesen – die mythologischen Darstellungen sind beliebt, da sie anders als die christlichen Motivgruppen Anlass zu einer freien (und freizügigen) Durchmessung des künstlerischen Kosmos bieten. Die lockende Versuchung einer befreiten Kunst, auch die unausgeloteten Bereiche des Schreckens und der Bizarrerie mit der ästhetischen Praxis zu versöhnen. Atomisierung der Welt bei gleichzeitiger Synthese zu einem ungeheuren Neuen: Die Porträts Arcimboldos, der Köche aus Kochgeschirr oder Gärtner aus Gemüse zusammensetzt, sind bis heute eines der bekanntesten Beispiele der Epoche. Weniger bekannt ist übrigens, dass Arcimboldo auch an einem Projekt arbeitete, Töne durch Farben wiederzugeben und sich am Prager Hofe unter den Kaisern Ferdinand, Maximilian und Rudolf auch als Ingenieur und Architekt betätigte. Unter anderem arbeitete er an Plänen zum Bau eines Museums – ebenfalls eine Erfindung des Zeitalters, der erste Museumskatalog der Geschichte erschien 1546.

 

Zugleich wird die Welt mobiler: Die Erfindung, man muss sagen, die Wiedererfindung der Kutsche (die es bereits in der römischen Antike gegeben hatte, deren Kenntnis jedoch im Mittelalter verlorengegangen war) schafft neue, komfortablere Reise- und Handelswege, auf denen auch die Kunst zu reisen beginnt: Denn die zeitgleiche Entwicklung von Radierung und Kupferstich ermöglicht erstmals die Reproduktion von Werken – die Kunst internationalisiert sich, denn nun können Kunstwerke unabhängig vom Ort ihrer Entstehung und Hängung betrachtet werden, und so, im Austausch begriffen, wird der Manierismus zum Ursprung einer ersten gesamteuropäischen Bewegung, die in den Jahrzehnten bis 1600 in immer delikateren Verfeinerungen an einer Ästhetik der Vielheit arbeiten wird.

 

Kunst hat Sender und Empfänger, und auch auf der Empfängerseite sind die Bedingungen günstig. Zum einen erwächst in den Städten ein neues, humanistisch geschultes Bürgertum – der Markt erweitert sich – zum anderen greift das absolutistische Repräsentanzbedürfnis begierig die neuen Techniken auf: Für einen Hochzeits- oder Triumphzug werden auch schon einmal bis zu 12 Quadratmeter große Kupferstiche bestellt, die dann die Häuserfassaden am Rande des Zuges schmücken.

 

Es entstehen Gesamtkunstwerke wie die Villa d’Este, mit ihren Brunnen und Wasserorgeln, mythologischen Vexierspielen und Gärten, welche immer wieder die Form des Labyrinths und der Spirale aufgreifen, die zu den sprechendsten Symbolen des Cinquecento zählen. Und zugleich entsteht allmählich die heutige Kultur des Sammelns, Bewahrens und Präsentierens von Kunstwerken, zunächst in Gestalt der sogenannten Bilder- und Wunderkammern, adelige Privatkollektionen, dem engsten Zirkel vorbehalten. Rudolf II., der Habsburger Kaiser, versammelte in seiner Prager Burg die größte Sammlung: Der auch brennend an Alchemie interessierte Kaiser hortet in seiner Kunst- und Wunderkammer, die zum Vorbild zahlreicher vergleichbarer Kollektionen werden sollte, nicht nur Gemälde der bedeutendsten Maler seiner Zeit (die er, wie Arcimboldo, zum Teil in eigenen Diensten hatte), die Pracht und das Staunen galt auch gleichermaßen der Natur wie der modernsten Technologie seiner Zeit. In quasi unschuldiger, vorwissenschaftlicher Gleichrangigkeit finden sich Meisterwerke neben Kuriositäten, die künstlerische Avantgarde ihrer Zeit neben Naturalien – alles, was das Staunen über den rasant expandierenden Kosmos ausdrückt, wird hier versammelt. Juwelenverzierte Magensteine, sogenannte Bezoare, versteinerte Ablagerungen aus den Körpern von Tieren, galten als probates Prüfmittel gegen Vergiftungen und finden sich bis heute in Naturalienkabinetten in ganz Europa.

 

Silberummantelte Meteore, goldgefasste Kokosnüsse, Alraunenwurzeln in Bleikristallstürzen… Naturalia, Scientifica, Mirabilia und natürlich Monstera – zweiköpfige Föten, siamesische Schafe, die Vermessung des sich rasant erweiternden Kosmos in der Zeit der kopernikanischen Wende geschieht hier von den Rändern, den Extremen her.

 

Auch die Geburt eines Begriffs ist an dieser Stelle zu melden: Das Kunststück tritt in die Welt. Kunststücke bezeichnen im 16. Jahrhundert Kunsthandwerk in seinem hochedelsten Sinne, nicht wie heute oftmals ein unentschiedenes Drittes zwischen Kunst und Handwerk: Vielmehr handelt es sich um Objekte und Kleinplastiken, welche die Lust der Zeit am Exzentrischen mit artifizieller Meisterschaft verbinden. Tischaufsätze in der Gestalt silberner Gebirge, Elephantenuhren, geometrische Schnitzobjekte aus Elfenbein (die berühmten Kugeln in den Kugeln in den Kugeln etwa) – das moderne Design liefert der Manierismus: Wie eine Orgel, die dem Gemeindegesang stets um einen Ton voraus ist, befriedigen die Künstler das traditionelle feudalistische Repräsentanzbedürfnis in einem Stil, der vom neuen Individualismus getragen wird.

 

Repräsentierte der Fürst zuvor die gesamte irdische Sphäre, neben der nur das göttliche und seine Darstellung bestand, hatte so wird nun ihm nun der sich im Zeitalter der Entdeckungen immer weiter ausdehnende Kosmos in all seinen Facetten als Drittes beigegeben. Das Staunen über die Welt und die künstlerisch- handwerkliche Möglichkeit ihrer Abbildung hält prachtvollen Einzug. Massalio Ficino, ein Philosoph der Renaissance, hatte eine Generation zuvor die Frage gestellt: Was ist das letzte Rätsel? Und die Antwort gegeben: Die Verwandlung eines Dinges in ein anderes. Lautreamonts berühmtes Wort von dem ‚zufälligen Zusammentreffen einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf einem Seziertisch’, welche das Wesen der Schönheit definieren sollte, sie könnte, auf ein zeitgemäßeres Instrumentarium übertragen, unmittelbar aus der Epoche des Manierismus stammen.

 

Nicht von ungefähr ist die Metamorphose, ihr Resultat und der Weg dorthin eines der zentralen Sujets der Malerei – Leda und der Schwan, Io, Daphne, Europa, keine Gelegenheit bleibt ungenutzt, die Durchmischung der Sphären zu feiern – Assonanz und Antithese in permanenter Durchmischung. Noch einen Schritt weiter geht die Anamorphose: Manche Bilder entschlüsseln ihren Gehalt nur, wenn sie mit Hilfe spezieller Prismen oder in bestimmten Winkeln betrachtet werden: Die Erfindungen des Mikroskops und des Fernglas stehen am Ende der Epoche, die Welt wird größer, die Welt wird kleiner.

 

Eine Zwischenstellung zwischen bildender Kunst und Sprache nimmt die Emblematik ein, illustrierte Sinnsprüche, die sich in der humanistisch gebildeten Schicht des 16. und 17. Jahrhunderts nachgerade zu einem Sport entwickelten. Diese heutzutage ohne entsprechende Erläuterungen oftmals unverständlich, geradezu surreal wirkenden meist kleinformatigen Zeichnungen waren eine größtmögliche Verdichtung der Metapher: Sie bestehen aus Lemma, Icon und Epigramm, einem den Inhalt beschreibenden Überschrift, einem oftmals gereimten Sinnspruch und einer Abbildung, die das behandelnde Thema symbolisch illustrierten. Nimmt man jedoch den Text hinfort, bleiben Bilder und Objektpaarungen zurück, die befremdlich wirken müssen – ‚Blutegel peinigen die Lachse’: ein Symbol der Gewissensqual; ein Herz im Beutel: Habgier; ein Schwein in Rosen: Ein törichter Herr braucht edle Diener; eine Schießscheibe im Wasser: Das Ende der Welt.

 

Die auch sprachlich oft verdichteten beigegebenen Texte führen mich zum letzten zu erwähnenden Kunstprinzip, das gewissermaßen das sprachliche Gegenstück zur alles beherrschenden Metapher ist: Dem Concetto. Dieses mit ‚Einfall, Laune, Geistesblitz’ zu übersetzende Wort prägt den Geist manieristischer Literatur – überbordende Metaphernfülle und formale Experimente, die die Sprache bis an den Rand der Verständlichkeit treiben, was für die Malerei gilt, gilt auch hier: Die Lust am Sprachspiel, dem Rätsel und etwa auch dem Anagramm, der alchemistischen Zerlegung der Sprache in ihre Einzelteile und ihre Neusynthese, erschaffen überhelle oder verdunkelte Bilder, in deren gemeinsamer Entschlüsselung sich die geistige Elite derzeit definiert und verständigt, ein exklusives soziales Medium seiner Zeit. Selbst neue Sprachen werden entwickelt: Der englische Philosoph und Magier John Dee etwa entdeckt mithilfe eines Mediums und magischer Karten das Henochische, die Sprache der Engel. Sie können es bis auf den heutigen Tag wie das Klingonische lernen.

 

Lassen Sie mich an dieser Stelle einen großen Sprung machen – zum einen über 300 Jahre, nachdem zu Beginn des 17. Jahrhunderts diese machtvolle Bewegung der intellektuellen Exzentrik an ihr Ende kommt – die feudalen Verhältnis haben sich neu konsolidiert, Gegenreformation und die Bedrohung des 30jährigen Kriegs drängen die Kunst zurück in die formellen Bahnen, die Konventionen der Repräsentanz erobern das Feld zurück; was folgt, sind sattsam bekannte Epochen, Barock, Rokoko, Klassik, bis hin zum Impressionismus – doch das Interesse an den im Manierismus bis zum Zerreißen gespannten Formen erlischt nie ganz, Künstler wie Piranesi, Grandville oder Goya tauchen als erratische Blöcke auf und werden wieder überspült von der alles einebnenden Macht der Konvention.

 

Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts wird dann das geboren, was Kunsthistoriker wie Hocke als ‚2. Manierismus’ bezeichnet haben: Mit Stilen wie Futurismus und Surrealismus, begleitet von ihrem kleinen Bruder, dem scharfzüngigen Hofnarr Dadaismus, tritt, untermalt von einem erneuten lauten Knall, dem ersten Weltkrieg, eine neue Bewegung an, die die spannungsgeladenen Facetten der Welt auf der Höhe ihrer Zeit abzubilden bestrebt ist, erneut angetrieben durch eine technologische Beschleunigung, die auch die Künste dauerhaft beeinflussen soll – Film, Foto- und Fonografie seien stellvertretend genannt. Ich muss zu einem Ende kommen, daher möchte ich Sie anregen, die angeführten Charakteristika selbst zu übertragen auf die Werke der Zeit ab 1913 (dem Jahr der Uraufführung des Sacre du printemps, der großen New Yorker Armory-Show, die den Durchbruch für Duchamp, Picasso, Matisse und andere bedeuten sollte, sowie dem Erscheinen des ersten Bands von Proust Recherche du temps perdu, vielleicht dem ersten und größten manieristischen Meisterwerk der daran so reichen Literatur des 20. Jahrhunderts). Meret Oppenheims Pelztasse, Max Ernsts zoomorph-geisterhafte Wälder, Dalis Anamorphosen, die plastischen ‚Kollektivcollagen’ Andre Bretons, das bis heute nicht in Gänze entschlüsselte ‚Große Glas’ Marcel Duchamps, die untermeerischen Traumlandschaften Yves Tanguys, Paul Klee, geradezu ein role model des reflektierten, intellektuellen Künstlers, oder das eigentümliche Künstlerpaar Hans Bellmer und Unica Zürn, seine schreckerregend geschändeten Puppenleiber und ihre feingesponnenen Anagramm- Welten, das alles sind Manifeste einer seither nie wieder verschwundenen Seh- und Darstellungsweise, in deren Ahnen- und Enkelreihe auch das Werk eines Stefan Zöllner steht.

 

Und der mit seiner neuesten anagrammatisch inspirierten Arbeit ‚Sprachlabor’ den Manierismus auf eine potenzierte Ebene hebt: Die alchemistische Transformation überführt die Dinge in Sprache, die dann, atomisiert und neu zusammengefügt, neue Dinge gebiert. Hier treffen sich platonische Ideenwelt und magisch- protochemische Entdeckerfreude und kreieren jenes numinose Dritte, das als Kunst von der Sphäre des Empirischen, der wissenschaftlichen Faktizität geschieden zu sein scheint. Die Manieristen aller Zeiten wussten es besser: Jede Welt ist ein Kunstwerk.

 

Martin Knepper, 2013
(Eröffnungsrede der Ausstellung „Sprachlabor“)

 

 

 

Break on thru to the other side

– Die schamanistischen Werkzeugphantasien Stefan Zöllners –

 

Waren seine Objekte bis 1998 noch Einwohner ihres jeweils eigenen Universums, Planet und Sonne gleichermaßen einer inwendigen Doppelfigur, die sich auf einer chymischen Egohochzeit in einem geheimen Ritus selbst umkreist, um ihren auratischen Dynamo aufzuladen, sind die Arbeiten seit 1998 in einer neuen Gemengelage schamlos aktiv.

 

Vorausahnend angelegt und in seiner zentralen Arbeit dieser Zeit „Camera obscura“ nach und nach verwirklicht, werden jetzt die einzelnen Objekte, wie in seinen Zeichnungen schon immer im Mit- und Gegeneinander, in einen gemeinsamen Tanz verwickelt. 1998 zuerst noch ironisch selbstisch auf ihre Autarkie pochend und locker unter einem Krankenhausdach in Beziehung gesetzt in „Crême de la crême“.

 

2001, nach einem intensiven Schwitzhüttenwinterschlaf erscheint dann „System“ in einer konzentriert neuen Form. Fast sarkastisch zwingt Zöllner jetzt vom Bürger verworfenes Mobiliar in einen unbenannten Wirkzusammenhang. Die große zweiteilige Skulptur ist das modulare Versprechen einer Parallelwelttechnokratie, kreatives Recycling endlich auch im Raumschiffbau einzusetzen. Im Habit einer Arte-povera-Falle für Colani-Adepten entsteht ein gespenstisches zweieiiges Zwillingspaar. Eine vermeintlich funktionable Gerätschaft, die horizontal liegend, uns unangenehm voraus, in ihre eigene, fremde Zukunft ragt oder, in die Vertikale gestellt, hinterfotzig perfekt die Hausbar von Shiva imitiert.

 

Von dieser konzertierten Aktion mußte sich Zöllner im folgenden Jahr erst wieder erholen, überrascht seine Freunde und Liebhaber aber dann mit der Verwirklichung eines langgehegten Wunsches: der in hunderten von Zeichnungen versprochene wirbelnde Gerätewahnsinn wird endlich materialisiert.

 

2002 werden seltsam sittsam, oder besser, organisiert in Spannung gehaltenene Kleinobjekte in ein sexuell aufgeladenes Swingerensemble gezwungen. Die in Schwebekopulation gehängten Akteure sind in einem Schaufenster mit exhibitionistischer Lust zugange und nicht wenige der Besucher dieser Ausstellung wünschten sich spontan die filmische Animation dieser Orgie.

 

Nicht weniger lustvoll, aber weitaus „ernster“ entsteht später in diesem Jahr eine weitere Installation beziehungsreich arrangierter Objekte: „Flugzeugfressende Gärten“. Angeregt von einer Bildikone seines Ahnen Max Ernst „Jardin gobe-avions“ fixiert Stefan Zöllner jetzt sich Maschinen anverwandelnde Insekten in einem beinahe filmischen Still. Quer durch den Raum und die Betrachtersehrinde havarieren die Phantasien auf aggressiv geordneten Sandlandebahnen. Gerade noch verfolgen wir die subtilen Mäander des Max-Ernst-Zitats, da erreicht uns, langsam in den Nacken kriechend, die Überhöhung, in der uns Zöllner brutal feinsinnig den Crash der Technik als die Gitterwände des Materiekäfigs vorführt.

 

Georg Heuschen, 2005
(Katalogtext „Boxenstop“)

 

 

 

Ecken, Lücken, Module

– Auf Reisen in Stefan Zöllners Raum –

 

Ich besitze ein Objekt des Künstlers, eine Art Sonne aus vier Besen, deren Borsten sich über eine Länge von 8 bis 9 cm flach nach außen spreizen und so unten 11 und oben 15 cm breite Strahlenbündel ausbilden. Alle vier Besen sind in Kreuzform angeordnet, in der Mitte durch ein 15 x 15 cm quadratisches Ledersäckchen zusammengehalten. Das ganze Objekt hat etwa die Maße 32 x 33 cm und kann an einer von vorne unsichtbaren Kordel aufgehängt werden. Die Massivität und Widerborstigkeit des Materials korreliert mit der Erstassoziation Sonne und der Ähnlichkeit zum Eisernen Kreuz. Beide ästhetischen Konzepte prallen jedoch ab an der schier uneinnehmbar rustikalen Form, die diese Sonne angenommen hat. Hart aber gerecht fegen vier Besen den Weltenstall aus!

 

Ist sicher unschick, olle Kamellen wie Dada/Surrealismus heranzuziehen, aber für einen Nicht-Kunstkenner wie mich, der sonst eher in auralen Sphären unterwegs ist, stellt Zürich 1916 eben doch das Symbol einer kleinen, aber feinen kollektiven Schocktherapie dar. Ist doch so, dass Dada der Punkrock des frühen 20. Jahrhunderts war? Will keine langbärtigen Debatten anzetteln, aber zumindest einige Teile der späteren Popkultur haben diese Verwandtschaft auch erkannt. In guter Nachbarschaft mit der fortgeschrittenen Psychedelik etwa eines Captain Beefheart, zeugen surrealistische Kerben im Baum der Geschichte (Absteigen ins Bad des Unbewussten, Hacken neuronaler Schaltkreise etc.) von einer Tradition, die immer durch Ikonen (W.S. Burroughs etwa) repräsentiert wird, denn Surrealismus ist eigentlich eitel und weltzugewandt.

 

Als einer unter vielen Einflüssen durchweht dieser Wind auch Stefan Zöllners Werk. Und ich denke dabei nicht nur naheliegender weise an seine frühen Collagen. „Transpersonale Bänderdehnung“ (so der Titel einer seiner jüngeren Ausstellungen). das erinnert an das Konzept eines lustvollen Ausreizens einer vorgegebenen Materiallandschaft, die immer wieder beinahe fetischartige Verdichtungen bietet. Die klar präsente Aura eines Gegenstands herauszulösen und in freier Konstellation zum Inventar einer automatisch oder kontrolliert evozierten Parallelwelt zu erheben, dazu gehört Magie. Das „System“, modular, schließt augenblicklich alle Realitätsgeländer kurz und schickt den geeigneten Betrachter auf eine immerwährend mäandernde ontologische Rutschbahn. Transpersonal ist das, weil die eigene Person erst einmal überrumpelt werden muss und das allen so geht. Material und Farbe haben sich endlich gefunden und präsentieren sich stolz in einem orgiastischen Dauerclinch. Die Farbauswahl konzentriert sich auf zwei Pole: Organisch elegant und industriell-poppig. Ebenso in „Erotomaniacs“, wo zusätzlicher Raum zur Verfügung steht. Raum in Stefan Zöllners Arbeiten ist teils expansiv codiert, teils angenehm verschwägert mit dem „ma“ (etwa: „Lücke“, „Zwischenraum“) der japanischen Zen-Kultur. Dass Zen-Praxis ein gangbarer Weg für Künstler ist, erscheint banal, aber hier ist ein Meister vom Hocker gefallen. Ein Atelier als Gebetshalle, der auf ein Schachbrett gestülpte Ur-Raum, idealer Ausgangspunkt für eine Exkursion in die Kunst Stefan Zöllners.

 

Malerei und Zeichnungen: Hier wird ein präverbales Sehnen nach Formen-Kitzel erfüllt. Skurille Gestalten und wohltuende Entstellungen erzeugen atavistische Erinnerungsfraktale, ganz wie Wilhelm Busch auf Absinth (den großen Waschmaschinenhersteller lasse ich mal aus dem Spiel). Hier wird einmal drastisch vorgeführt, wie schön die Welt hätte sein können. Sinnenfrohe Kleingötter rackern sich ab in weitläufig gespreizten Raumentwürfen, ohne zu merken, dass sie längst Menschen sind. In so einem Zöllner-Bild will man sofort seine Zelte aufschlagen. Dereinst werden Horden von Ethnologen dort intensive Forschungen betreiben. Und heute?

 

Am Zöllner kann sich niemand vorbeimogeln, erst recht nicht, wer sich jemals vorurteilsfrei um den Geist ihrer Zeit geschert hat. Die Pop-kultur der 80er und 90er stand mit einem Zeh auch auf dem Boden einer teils para-okkulten oder expressionistisch-tribalen Undergroundkultur, in der „Modern Primitives“ als radikale Avantgarde Piercing und Tattoo vormachten, überall die Dreamachine rotierte und der Psychedelikk der Vorzeit eine zweite Amtsperiode gewährt wurde. Weltweit wurde da weitergearbeitet oder nie aufgehört. Und analog zu Velvet Underground vs. Kalifornien wiedererstand in Europa eine Art Ästhetik des Abseitig-Spirituellen – diametral entgegengesetzt zum Wirtschaftsfaktor „Esoterik“ und beispielhaft repräsentiert durch die englische post-anarchistische Independentszene um Nurse with Wound etc. Dieser Hintergrund mag im Zusammenhang mit Zöllner weit hergeholt erscheinen, doch er soll hier als Hinweis auf eine mögliche Geistesverwandtschaft dienen. Schamane? Ein inflationär gebrauchter und oft nivellierender Titel, aber bei Stefan würde ich ihn mit einem Fragezeichen im Raum stehen lassen. Während seine Musik (unter dem Namen fatagaga)streckenweise eher einer unterkühlten, post-post-modernen Auralerotik huldigt, könnte für seinen bildnerischen Output (mit Vorbehalten) die Assoziation „schamanistisch“ adäquat erscheinen. Ich als Banause darf so was ja sagen. Stefan Zöllner steht vor der Kellertreppe. Hier geht’s abwärts: Willkommen im Raum, einer Projektion von unter dem Hirnkasten des Meisters! Ein schweinigeliges Kichern durchpulst Ihren Auralkörper, nur ein exorbitant allumschlingendes Gelächter vermag im nD-Schacht ausreichend Schutz vor frei flottierenden nagualen Kopfnüssen zu bieten.

 

Es ist die Trockensonne, deren Schein eher fossil und nachhaltig wirkt, hautschonend und vitaminreich. Nebenbei: Das Ding strahlt jetzt in meinem Arbeitsraum. Es ist ein Modul, wie viele seiner ehemaligen Ateliergenossen, nun andernorts in Ausübung einer hehren Pflicht. Schön, dass man eine Sonne nun endlich es nennen darf. Den Wettkampf der Ikons hat hier eindeutig die Drittassoziation gewonnen: Das auf eine heidnische Weltarchitektur verweisende Ikon einer bodenständigen Vier-Ecken- Ausrichtung (und das Auskehren derselben). In Allen Vier Ecken soll ja bekanntlich: Liebe drin stecken.

 

Luka Höfler, 2005
(Katalogtext „Boxenstop“)